Samstag, 9. Dezember 2023
Kristallwelt (Henry und June/Erzählung/SF) - Part IV.
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Der Erste, der, vorne vom Fahrersitz aus, nach Minuten, in denen Staub und Schrecken sich langsam verzogen, die eingetretenen Stille brach, war der offenbar deutlich ernüchterte Henry: „Scheiße!“
Es ging ihm den Umständen entsprechend gut.
Auch Eloise kam wieder zu sich. Sie schien ebenfalls glimpflich davongekommen zu sein, wenngleich, wie Finn trotz allem nicht vermeiden konnte festzustellen, ihr sonst so elegantes Äußeres deutlich gelitten hatte.
Wirklich schlimm jedoch hatte es die billig wirkende Blondine erwischt: sie war bei Bewusstsein, klagte aber über Schwindelgefühle, wobei sie, laut stöhnend, und hin und wieder mit den Händen ringend, der Wucht ihrer dramatischen Natur vollen Ausdruck verlieh, schluchzend hielt sie sich schließlich ein weißes, mit blutroten Flecken getünchtes Tuch vor die gebrochene Nase und verfiel in ein resigniertes Wimmern.
Finn selbst hatte - er bewegte probeweise Glieder, tastete nach Kopf und Leib - offensichtlich keine ernsthaften Verletzungen davongetragen; alles tat ihm weh, aber darüber hinaus …
Er kämpfte sich vom Rücksitz, stieg aus und sah sich um.
„Noch nie gesehen.“, entfuhr es ihm kurz darauf, als er noch schwankend, aber wenigstens wieder einigermaßen sicher auf den Beinen stand.
„Was?“
Henry, inzwischen gleichsam aus dem Wrack des Wagens geklettert, glotzte ihn mit entsetztem und zugleich lächerlich dümmlichem Gesichtsausdruck an. „Na, sieh dich doch mal um, Schlaumeier“, sagte Finn, „Kannst Du mir vielleicht sagen, wo zum Teufel wir hier eigentlich sind? Wir sollten eigentlich tot sein, Junge, verstehst Du?!“

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Eine Art "Intermission".

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Montag, 27. November 2023
Kristallwelt (Henry und June/Erzählung/SF) - Part III.
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Eloise gab sich alle Mühe.
Während man einen Joint herumreichte und eine Flasche Rotwein leerte, zeigte sie sich von ihrer besten Seite und scheute selbst vor einem Griff zwischen seine Beine nicht zurück. Finn jedoch - zu diesem Zeitpunkt viel zu sehr damit beschäftigt, den unsicheren Fahrstil Henrys im Auge zu behalten - erschrak eher, als dass er angemessen auf diese Geste reagiert hätte. Seine Erwiderung fiel mager aus: ein schmales Lächeln, gefolgt von einem staubtrockenen, für beide Seiten eher enttäuschenden Kuss, war alles, was er zustande brachte. Das Unglück - konstatierte er während dessen ganz für sich - ist ja praktisch gar nicht mehr aufzuhalten, wenn sich die Dinge in dieser Weise entwickeln.
Doch zunächst geschah, all seinen bösen Ahnungen zum Trotz, nichts weiter. Grübelnd kauerte er neben Eloise auf dem Rücksitz und haderte mit dem Schicksal. Wie sich bald zeigen sollte, ein kurzer, trügerischer Friede, der, gerade als Finn nahe daran war, sich mit den Umständen dieses ersten Dates mit Eloise abzufinden, so abrupt endete, wie er eingetreten war.
Es kam, einer Verifikation chaostheoretischer Prognosen gleich, zu mehreren unheilvollen Vorkommnissen, die sich allesamt im selben Augenblick ereigneten: June, die vorne neben ihrem zukünftigen Mann saß, zog sich zu viel Rauch auf ihre Lungen und brach, als wäre dies die kakophone Ouvertüre für alles, was noch folgen sollte, in ein hartnäckiges, trockenes Husten aus; Eloise indes, die wunderschöne, begehrenswerte Eloise, offensichtlich beleidigt, weil Finn ihre Bemühungen in nicht ausreichendem Maße zu würdigen gewusst hatte, hob, feine, filigrane Seufzer ausstoßend, neben ihm an, sich selbst zu befriedigen - und Henry? Nun, Henry, hektisch bemüht, den Schleier, der sich immer wieder über seine Augen legte, doch noch rechtzeitig wegzublinzeln, steuerte schwitzend und zitternd auf eine Haarnadelkurve zu, die - das wurde Finn in jener Sekunde bewusst, in der das Heck des Wagens erstmalig leicht zur Seite driftete - sie alle auf eine alte Eisenbahnbrücke zuführen würde.
Wie ein Alpinist, der sich auf dem Rückweg vom Gipfel eines Achttausenders zur Rast niederlässt - sicher und unsicher in einem - gefror der Moment zu einem endlosen Abbild der Ewigkeit, eingeätzt auf photochemischen Platten aus vertaner Zeit. Dann geriet der Wagen endgültig aus der Bahn, flog aus der Kurve, durchbrach marode Brückengeländer und schwebte grotesk still in die Leere des Frühabendhimmels hinaus; die Reifen, nunmehr ohne Gripp, drehten sich weiter und weiter, so, als suchten sie den verlorenen Halt doch noch irgendwie wiederzugewinnen.
Finn begriff, dass keiner von ihnen sein Ziel erreichen würde, nicht an diesem Abend und nicht mehr in diesem Leben. Er kniff, ein abschließendes Gebet an den Kristallgott sendend, die Augen zusammen, wartete, atmete und
- als nichts passierte, schlug er sie wieder auf.
Draußen breitet sich ein rötlicher Spätabendhimmel aus, gezeichnet von länglich hingestreckten, dunkelvioletten Wolkenbänken, deren Ränder - von der zergehenden Sonne zu einem letzten Höhepunkt des Tages erkoren - grell gelb glühten. Ein Bild, zum Sterben schön.
„Ist dies das Paradies?“, fragte sich Finn.
Und: „War es ein gutes Leben, das ich geführt habe?“
Noch ehe er Antworten auf seine Fragen finden konnte, platzten die Echos panischer Schreie in den Kokon, der ihn so sanft und letztgültig zu umschließen begonnen hatte, und - nur wenig später - prallten sie auf.

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Samstag, 18. November 2023
Ehremund (Der letzte Barbar/Erzählung/Fantasy) - Teil II.
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Rot glühte der nächtliche Himmel über Syrakin, der gebrochenen Stadt, die nach mehrwöchiger Belagerung dem Druck des Feindes nicht mehr hatte Stand halten können. Die Plünderungen - von je her das Recht der Sieger - befanden sich in vollem Gange. Ehremund ging durch die Straßen der Stadt, begleitet vom Brüllen der Brände und dem beißenden Geruch des Rauchs, dem Geschrei weinender Kinder, sterbender Männer und ihrer vergewaltigten Frauen.
Er selbst nahm keinen Anteil an den Exzessen - die Menschen hatten während der Belagerung genug gelitten, warum ihnen noch einmal zusätzliches Leid zufügen?
Trotz seiner Abscheu hatte er dennoch nie den Versuch unternommen, die barbarischen Verbrechen, die nach dem Fall einer belagerten Stadt verübt wurden, in irgendeiner Weise zu verhindern. Zu gut kannte er den Charakter der Männer, die sich, wie er selbst ja auch, ihren Lebensunterhalt als Söldner verdienten. Grausame, herz- und gottlose Tiere, die kaum mehr interessierte, als die schnelle Befriedigung ihrer primitiven Gelüste, ihrer Gier - nach Macht, nach Reichtum und Frauen, saufende, hurende Barbaren, derart abgestumpft und gewissenlos, dass es ihnen nicht die geringsten Probleme bereitete, einen Menschen, auch wenn er längst am Boden lag, auf brutalste Art und Weise zu quälen, zu verstümmeln, und am Ende zu töten. Männer, Frauen, Kinder - es spielte einfach keine Rolle.
Ehremunds Interesse galt ausnahmslos den Dingen, die er tatsächlich benötigte.
Waffen, ein kunstvoll hergestelltes Velbruckschwert, ein ausgewogen gefertigter Dolch, eine stabile Armbrust, Bekleidung, Rüstungsteile oder, wenn sich, was selten geschah, die Gelegenheit dazu ergab, ein gesundes und kräftiges Reittier, das waren die Dinge, nach denen er Ausschau hielt.
In dieser schicksalhaften Nacht betrat er müde ein noch unbeschädigtes Haus, über dessen Eingangstür das in Holz geschnitzte, abstrakte Symbol zweier empfangender Hände auf das Geschäft eins Heilers hingedeutet hatte.
Es war an der Zeit, seinen Vorrat an getrockneten Heilkräutern und Medizin zu ergänzen.
Dunkel und verlassen lag der Verkaufsraum vor ihm. Im flackernden Schein der vor den Buntglasscheiben lodernden Bränden sah er sich nach dem Regal mit den tönernen Krügen um, in denen die Heiler für Gewöhnlich ihre Salben und Kräutermixturen aufbewahrten, entdeckte es am gegenüberliegenden Ende des Raums, ging hinüber und machte sich daran, die in steilen Runen gefassten Bezeichnungen auf den Gefäßen zu entziffern.
Unachtsamkeit.
Der Fehler eines Anfängers.
Ehremund hatte die Gefahr weder gespürt, noch hatte er den Angreifer - in dessen Händen ein klobiges Kurzschwert dämonisch glänzte - gehört. Erst als sich das Blatt der Waffe unterhalb des linken Schulterblattes in seine Muskulatur bohrte, und ein weiterer, schnell nachgeschobener Streich ihm eine schräg über den Rücken verlaufende, augenblicklich weit aufklaffende Wunde zufügte, reagierte er. Er fuhr herum und starrte in das Gesicht eines vielleicht zwölfjährigen Jungen mit lachsfarbenem Haar, der, bleich vor Angst, das blutige Schwert kaum noch in Händen zu halten vermochte. Ein Kind!
Aufschreiend vor Wut und Schmerz schlug er dem Jungen das Schwert aus den Händen, packte ihn und - brach ihm das Genick.

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Montag, 13. November 2023
Kristallwelt (Henry und June/Erzählung/SF) - Part II.
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Unter brummenden Motorengeräuschen ließ er das Stadtzentrum hinter sich und gelangte an die Auffahrt zu der in den östlichen Stadtbezirken gelegenen Universität. Es war der Ort, an dem er sich mit Eloise verabredet hatte. Er sah sich um und bemerkte ihre Gestalt in einiger Entfernung vor dem Campustor - eine elegante, spielpuppenartige Erscheinung, die größer und größer wurde, je näher er kam.
Sie war bezaubernd.
Immer schon war er von ihrer Erscheinung wie geblendet gewesen. Auch heute verhielt es nicht anders: ein mit schwarzen Symbolen gespicktes, metallic-silbernes Tuch, das nur wenige, ungezähmte Strähnen ihres brünetten Haars über der Stirn freiließ, bedeckte ihren leicht seitlich geneigten Kopf, sie glich einer der vergangenen, europäischen Königinnen, deren zeitloser Stil ihnen allen aus den Pflichtprogrammen des staatlichen Bildungsfernsehens bekannt war.
Finn hielt an, und mit der Umdrehung des Zündschlüssels im Schloss verstummte auch die Musik. Er öffnete die Tür, stieg aus, ging auf Eloise zu und - verharrte, als plötzlich hinter den Natursteinmauern, zwischen denen das schmiedeeiserne Tor der Universität verhängt war, zwei Fremde hervortraten: eine ungepflegte, männliche Gestalt in Begleitung einer billig wirkenden Blondine, deren Brüste unter dem hellblauen, viel zu engen Häkelpulli wie Styroporkugeln hervorstießen.
Nur wenig später, noch ehe er den Schock verdaut und seine Überraschung zu Ende überspielt hatte, befand er sich bereits wieder auf dem Rückweg zum Wagen, fühlte sich desillusioniert, nicht jedoch letztgültig entmutigt. „Henry und June…“, so hatte Eloise die beiden in einer lässigen Geste vorgestellt, „…würden gerne mit uns kommen!“ Und, gefolgt von einem Augenaufschlag: „Sie haben sich kürzlich dazu entschieden, den ewigen Bund fürs Leben zu schließen!“
Doch auch damit hatte das Unglück noch nicht wirklich begonnen. Der entscheidende Satz sollte noch folgen: „Lass doch Henry ans Steuer!“, hatte sie noch hinzugefügt und dabei erneut auf den zotteligen Hünen und seine Verlobte neben sich gedeutet, „Vielleicht können wir beide dann ein wenig rummachen, hinten auf dem Rücksitz!“.
Damit hatte sie gelächelt, schlangengleich.
Finn fand nicht mehr die Zeit, seiner Entscheidung logisch auf den Grund zu gehen oder über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Wichtige Teile seiner kognitiven Funktionen bis hinein in die tief verkapselten Areale seines amphibischen Stammhirns quittierten den Dienst und begaben sich zur Ruhe, während zugleich ein Kurzschluss - irgendwo in den Verklebungen seiner ins Leere feuernden Synapsen - ihn dazu veranlasste, das Angebot sofort und augenblicklich anzunehmen. Und so - verschlungene Wege des Schicksals - begriff er erst viel zu spät, dass der langhaarige Typ, der jetzt hinter dem Lenkrad saß und seinen Sportwagen steuerte, völlig zugedröhnt und damit - vollkommen fahruntauglich sein musste.

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Freitag, 10. November 2023
Aufgerüstet: I/Flucht (Fragmente).
Jetzt, in diesem Moment, in dem er auf einem Stein saß und den kläglichen Rest Fleisch von einem schmutzigen Knochen nagte, verfluchte er alles, was ihm zugestoßen war: den Umstand, dass er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war, das Weltentor – einfach alles. Früher hätte man ihn einen glücklichen, einen ganz normalen Mollock nennen können, auch wenn ihm das zu jener Zeit nicht bewusst gewesen war. Er hatte zufrieden vor sich hingelebt, Menschen gejagt, ihr süßlich-rotes Fleisch verzehrt und damit das Bild eines respektablen Mitglieds seines Stammes abgegeben. Alles war also in Ordnung gewesen, bis zu jenem Tag in den Wäldern, an dem der seltsame Fremde aufgetaucht war, eine lächerliche Erscheinung in einem klobigen Anzug, mit einem gigantisch erscheinenden Helm über dem Kopf - eine zwingend notwendige Vorrichtung, um die Leere zwischen den Welten zu überwinden, wie Olmo inzwischen wusste.
Er erinnerte sich noch genau an die Worte, die er und das seltsame Wesen miteinander gewechselt hatten.
„Sei gegrüßt, mythisches Wesen einer unbekannten Welt“, hatte die Gestalt ihn - ein wenig zu pathetisch, wie Olmo damals fand - begrüßt und ihm dabei die behandschuhte Pranke entgegengestreckt.
„Ach, wäre ich nur davongelaufen“, seufzte Olmo, für einen Augenblick aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurückgeworfen, wobei er den inzwischen restlos abgenagten Knochen wie nebenbei ins Feuer warf, „dann wäre das alles nicht passiert.“
Doch Jammern, das wusste er selbst am besten, half nichts. Es war zu spät. Die Vergangenheit war nicht zu ändern.
Die pure Neugier hatte ihn seinerzeit dazu getrieben, auf den Kontaktversuch des Fremden einzugehen. Stumm hatte er zunächst dabei zugesehen, wie der Mensch, als der er nach und nach erkennbar wurde, seinen schmächtigen Körper aus der voluminösen Hülle geschält und sich von diversen Gerätschaften, die größtenteils auf seinem Rücken befestigt gewesen waren, befreit hatte. Dann waren sie ins Gespräch gekommen. Zu Olmos größtem Erstaunen, hatte der Fremde seine Sprache beherrscht. Ebenfalls eine Tatsache, die er sich mittlerweile zu erklären wusste, denn schließlich war es aus irgendeinem Grund einfach völlig normal, dass ein Weltenreisender, sobald er den Übergang bewältigt hatte, die Sprache der jeweiligen Sphäre, die er betrat, automatisch beherrschte.
Und darüber hinaus hatte das ganze ja auch umgekehrt funktioniert.
Ja, Olmo selbst war bereits einmal in eine andere Welt gereist, hatte selbst einen jener merkwürdig unförmigen Anzüge getragen und war dem Fremden durch die schwarze Leere, die wie ein dunkles Nichts gewesen war, in dessen Welt gefolgt.
„Ach, wenn mir der Anzug doch ein Stück zu klein gewesen wäre, sodass ich ihn nicht hätte tragen können.“, seufzte Olmo erneut und erhob sich von seinem Stein, um das Feuer zu löschen.
Während er über die Feuerstelle urinierte und dem von wütendem Zischen begleiteten Plätschern lauschte, das er hervorrief, drifteten seine Gedanken wieder in die Vergangenheit ab.
Wie ungewöhnlich war doch diese Welt gewesen, in die er hinübergewechselt war. Völlig anders als FantasyIsland. Glänzende Städte aus Metall und Glas hatte es dort gegeben und Menschen, Menschen, Menschen – so viele, dass man sie wohl kaum hätte zählen und erst recht nicht alle jemals hätte verspeisen können.
Besonders dieser Umstand hatte Olmo mehr als alles andere verunsichert, denn das dünnhäutige Volk war ihm bis zu diesem Zeitpunkt nur als schwach bekannt gewesen, wenig intelligent und nur in begrenzter Anzahl vorhanden. Hier, auf FantasyIsland, waren sie nicht mehr als eine leichte Beute, eine bequeme Nahrungsquelle, nicht nur für Mollocks, wie ihn, nein, auch für die Zyklopen und die Rocks, die ebenfalls ganz versessen auf ihr zartes Fleisch waren.
Das Feuer erlosch, und Olmo machte sich auf den Weg zu der Felsenklippe, die ihm in den vergangenen Tagen, in denen er hier gelagert hatte, als Aussichtspunkt gedient hatte. Ein steil nach oben vorspringender Fels, von dem aus er den Talkessel, welcher den einzigen Zugangsweg zu den Bergwäldern, in denen er sich versteckt hielt, darstellte, in seiner Gesamtheit überblicken konnte.
Unterwegs versuchte er ein weiteres Mal die nutzlosen Gedanken an die Vergangenheit zu verdrängen, aber es war nicht einfach. Seit der Aufrüstung funktionierte sein Verstand außergewöhnlich präzise, und so standen ihm seine Erinnerungen stets beängstigend plastisch vor Augen, wann immer er sie abrief oder zufällig mit ihnen konfrontiert wurde. Was haben sie mir nicht alles versprochen, dachte er, während er zielstrebig den steilen Abhang weiter hinaufstieg, Macht, Einfluss, eine führende Stammesposition - Verlockungen, denen er nicht hatte widerstehen können. Wer schließlich träumte nicht von Macht und Reichtum oder den vielen, üppig ausgestatteten Mollockmädchen, die sich unvermeidlich um einen Helden, der in unbekannte Welten gereist war, reißen würden? Alles Illusion, alles Lug und Trug, dachte Olmo noch, bevor es ihm endlich doch gelang, die Vergangenheit für eine Weile hinter sich zu lassen.
Mühsam kletterte er die letzten Meter hinauf auf den hoch gelegenen Felsvorsprung. Die gewaltigen Silhouetten der Rocks kreisten am wolkenlos blauen Himmel, das gleißende Sonnenlicht des Mittags zwang ihn, die behaarte Hand an die vorspringenden Augenwülste zu legen, um sie für einen Moment zu beobachten, bevor er seine Aufmerksamkeit auf den unter ihm gelegenen Talkessel richtete.
Der etwa sechs Meilen breite Kessel lag still und friedlich zwischen den grau aufragenden Felswänden, ein im Sonnenlicht glitzernder Bachlauf, der sich zwischen Grasmatten und kleinen Baumgruppen aus dunklem Tann hindurchschlängelte, teilte ihn der Länge nach.
Dann sah er sie.
Zunächst war er sich nicht sicher. Womöglich handelte es sich ja auch nur um eine Herde wilder Bergziegen, die das fruchtbare Höhental als Futterplatz nutzte. Dann jedoch gab es plötzlich keinen Zweifel mehr: der dunkle Pulk vorwärts drängender Punkte in der Ferne ergoss sich wie eine Lawine durch den schmalen Zugang am anderen Ende des Tals. Mollocks.
Olmo fluchte.
Fünf oder sechs Stunden - mehr Zeit blieb ihm nicht. Er musste das Tor finden - so schnell wie möglich.
Kurz wägte er die Möglichkeiten ab, die ihm noch blieben.
Natürlich wäre es möglich, immer weiter hinauf in die Berge zu flüchten, aber je höher er kommen würde, daran bestand kein Zweifel, umso schwerer würde es werden, zu überleben. Nicht nur die Kälte bereitete ihm Sorgen, nein, auch Nahrung würde, sobald er über eine gewisse Grenze hinausgelangte, nur noch schwer zu finden sein.
Er wandte sich ab und kletterte von seinem Aussichtpunkt hinab. Zwei Stunden Wegstrecke lagen noch vor ihm, ehe er an die Stelle gelangen würde, an der er das Weltentor letztmalig durchschritten hatte - damals, anlässlich seiner Rückkehr aus der Welt der Menschen.


(...)

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Montag, 30. Oktober 2023
Schachtelstadt - I/Torhaus (Kurzroman/Fantasy).
„Ich denke, es wird Zeit, die Dinge miteinander zu vermischen.“
Mehr brauchte ich nicht zu sagen, denn wir alle wissen, oder sollten wissen, dass, wenn der Moment, das Momentum, die Zeit für etwas gekommen ist, keine Macht der Welt mehr imstande ist, die Sache aufzuhalten, keine.
Das gedrungene Warzenschwein mit den Riesenhauern, die aufwärts gekrümmt seine Lefzen teilten, sah mich regungslos an. Ich wiederholte meine Worte nicht, warum auch? Der tief in den glasigen Knopfaugen meines Gegenübers aufglimmende Funke tat mir die erzielte Wirkung bereits in ausreichendem Maße kund.
Hinter mir, in der Schlange der Wartenden, die - wie ich - Einlass in die Stadt begehrten, wurde es unruhig. Ohne mich umzudrehen oder sonst in irgendeiner Weise zu reagieren, vernahm ich das Gezeter der Bauersfrauen mit den großen, geflochtenen Weidenkörben auf den gekrümmten Schultern, hier und da wurden die knurrenden Stimmen einzelner Bauern laut, die – zwischen Ausspucken, Schnäuzen, Rülpsen und Furzen – unwillige Unmutsäußerungen von sich gaben.
Endlich kam Leben in den Torwächter.
Mit einem kehligen Grunzen machte er seinen Mitwächter auf sich aufmerksam, wies ihn an, die Vertretung zu übernehmen, und verschwand durch einen schmalen, für seinen Körper beinahe zu engen Durchgang in der Mauer hinter sich. Ich vernahm noch seine schweren Tritte auf der Holztreppe, die im Inneren des Stadttores nach oben führen musste, dann war es wieder an der Zeit zu warten.
Gelangweilt beobachtete ich den zweiten Torwächter, der inzwischen damit begann, die Wartenden an mir vorbei zu lotsen, sie zügig abzufertigen, einzulassen oder ihnen den Einlass zu verweigern, offensichtlich gerade so, wie es ihm in den Sinn kam. Ich zumindest, für meinen Teil, konnte seinen Entscheidungen nicht die geringste Spur von Methodik oder System abringen, seine Auswahl gestaltete sich völlig willkürlich.
Nach einer Weile vernahm ich erneut das Poltern schwerer Tritte aus dem Torhaus und Sekunden später trat, mit einem einzigen, weit ausladenden Schritt, mein mir bereits vertrauter Torwächter wieder hinaus in den Schlamm des feuchten Morgens. Dass er mein rotes Beinkleid dabei mit schmierigen Erdklumpen besudelte, ignorierte er. Stumm hielt er mir ein violettes Papier entgegen. Schweigend nahm ich es entgegen, entfaltete es und las - erst einmal nichts. Die Runen der Schachtelstadt waren mir nicht vertraut, interessante halbmondförmige, breit gestrichene Vertikale; kurz aufs Papier geschossene Haken, die hin und wieder winzigen Ohren oder Augen glichen; und schließlich Punkte. Aber darüber hinaus?
Kurze Zeit später befand ich mich mit meinem Schriftstück, das meiner Einschätzung nach einen Laufzettel darstellte, auf dem Weg durch den tunnelartigen Durchlass des Stadttores, dessen Mauerstärke ich, wie ich bald feststellen musste, grob unterschätzt hatte.
Und dann, als der steinerne Tunnel schließlich doch noch endete, trat ich hinaus in meinen ersten, kühlen Märzmorgen innerhalb der Mauern der Stadt.

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Sonntag, 22. Oktober 2023
Kristallwelt (Henry und June/Erzählung/SF).
Alles schien vorbereitet für einen wundervollen Abend und, wie er hoffte, eine ebenso wunderbare Nacht. Er war frisch gebadet, Gel formte seine Haare, der Anzug, den er sich extra zu diesem Anlass gekauft hatte, stand ihm prächtig. Es war sein erstes, offizielles Date mit Eloise, und eigentlich - hätte nichts schiefgehen dürfen.
Als es so weit war, trat er aus der Tür, stieg in den Wagen und befand sich auf dem Weg. Im lauwarmen Schein des Sonntagnachmittags trieb er sein Fahrzeug federnd über die Straßen der Vorstadt, das Fenster heruntergekurbelt, den Arm weit hinausgelehnt. Aus den Boxen seines altmodischen Autoradios dröhnte laut eines seiner Lieblingslieder aus den Siebziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts.
Kurz hielt er an einem Blumenautomaten und zog ein paar blaue, künstliche Lilien aus einem der Fächer, dann trieb es ihn auf den Sternenboulevard hinaus, dessen Verlauf ihn, gerade wie eine sorgsam ausgelegte Schwarzpulverspur, durch das kristallene Zentrum der Stadt führen würde: vorbei an all den prunkvoll-klassizistischen Palästen aus geschnittenem Bergkristall, vorbei am kürzlich erst eröffneten Zeitdom, einem architektonischen Monstrum aus Marmor, honigfarbenem Bernstein und Glas. Finn erschauerte, als vor seinem geistigen Auge das Bild des Kristallgottes auftauchte, dessen Statue hoch oben in der Kuppel des Doms frei in der Luft schwebte, die Arme, wie um alles und jeden in sich zu begreifen, zu beiden Seiten hin ausgestreckt.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem er den majestätischen Bau das erste Mal besichtigt hatte, erinnerte sich daran, wie ihm der Atem gestockt hatte, während er hinauf in die bunte Explosion des prismenhaft erstrahlenden Lichts gestarrt hatte - voller erhabener Gefühle, voller Ehrfurcht, ein staunend aufgesperrter Mund unter vielen.
Die nörgelnde Hupe eines rostigen Pick-Ups warf ihn in die Wirklichkeit zurück. Er stieß einen Fluch aus, und seine Augen hinter den Gläsern der verspiegelten Sonnenbrille fokussierten sich wieder auf die Straße.

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Montag, 2. Oktober 2023
Mommsen - und der Fluch der 11.
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Mommsen verspürte nicht die geringste Lust, sich noch einmal in die Regionen des Geistes zu begeben, für die er auch heute noch keine andere Bezeichnung finden konnte, als den wahrlich zweifelhaften Begriff der „Hölle“.
Während er also derart nachdenklich von seinem Appartement im 64. Stock des NestorBuildings über die Silhouette der nächtlichen Stadt sah, hinab auf die Dächer der unter ihm liegenden Gebäude, in die laternenbeleuchteten Straßen, die wie tief ausgestanzte Gräben zwischen den Häusern verliefen, auf den - um diese Zeit - spärlicher gewordenen Betrieb dort unten …, zog sich sein Blick zurück, und er sah mit einem Mal nur noch das durchscheinende Abbild seines eigenen Gesichts, das ihn wie ein Gespenst aus der Sicherheitsglasscheibe vor ihm anstarrte. Ein fahles, furchtsames, vorzeitig gealtertes Antlitz, das just in diesem Augenblick die Lippen zu einem bizarr verzerrten Totenkopfgrinsen verzog.
War der Wahnsinn, so fragte er sich, zurückgekehrt, um seinen alten Bekannten Moses Mommsen in die Arme zu schließen, ihn nachhause zu holen - wie einen verlorenen Sohn?

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Samstag, 5. August 2023
Harford Manor (Erzählung/Klassische Phantastik).
„….And my soul from out that shadow that lies floating on the floor
shall be lifted – nevermore!”
-
Edgar Allen Poe - The Raven

Nun, hier war ich also.
Ich stieg aus der Kutsche, die mich vom nahe gelegenen Dorf herauf nach Harford Manor gebracht hatte.
Kaum, dass ich mit den Füßen den Boden berührt und mein Gepäck abgeladen hatte, vernahm ich hinter mir das gellende Schnalzen eines Peitschenhiebs, begleitet von der herrisch-knappen Aufforderung einer alten versoffenen Stimme, welche die Pferde zum unverzüglichen Aufbruch trieb. Die Kutsche wendete im großen Kreis, flog unangemessen schnell über den hellen, staubigen Kiesbelag zurück in Richtung Haupttor des Anwesens, verschwand zwischen den dickstämmigen Bäumen des herbstlichen Parks, ließ mich alleine zurück.
Das passte zu den Reaktionen, die ich bereits bei meiner Ankunft im Dorf hatte erleben können: meinem Ansinnen, dem Herrn von Harford Manor meine Aufwartung machen zu wollen, waren misstrauische, ja ängstliche Blicke gefolgt, ja, gar hatte ich zu fürchten gehabt, den Rest des Weges, im Schweiße meines Angesichts mein Gepäck tragend, zu Fuß zurückzulegen, falls tatsächlich niemand in meine Beförderung einzuwilligen bereit gewesen wäre. Nach wie vor war ich verwundert über dieses Verhalten, schob es aber auf die Verschrobenheit der ländlich-provinziellen Bevölkerung, die ja, wie jeder weiß, oftmals den unverständlichsten Impulsen nachgibt - und sich nichts dabei denkt.
Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich um.
In meiner Rocktasche trug ich die Nachricht, die mein früherer Studienkamerad Allan Harford mir vor einigen Wochen hatte zukommen lassen und welche der alleinige Grund für mein Hiersein war. Ich war damals nicht in der Lage gewesen, unmittelbar auf das Schreiben zu reagieren. Unaufschiebbare Verpflichtungen in Zusammenhang mit meinem Lehrstuhl in Olford, wo selbst ich das Professorenamt der „Strengen Komparistik“ betrieb, zwangen mich seinerzeit, die offensichtlich dringend notwendige Reise noch um ein paar lange Wochen zu verschieben. Und doch waren meine Gedanken, bereits geraume Zeit vor dem zuletzt doch erfolgten Aufbruch, auf seltsame und, wie ich Ihnen versichern kann, für mich ganz und gar untypische Art und Weise mit Allan Harford und dem Inhalt seines ominösen Schreibens beschäftigt geblieben. Es war mir sogar schwer gefallen, mich auf die Jahresabschlussprüfungen zu konzentrieren, die noch an meinem Institut abgehalten werden mussten.
Der Brief.
Ich tastete nach dem gefalteten Stück Pergament, und erschrak, als ich es nicht sofort fand. Dann aber stellte ich fest, dass ich es bereits in der Hand hielt.
Ich musste es unbewusst aus meiner Rocktasche gezogen haben.

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Dienstag, 31. Mai 2022
UNBERÜHRT/Expression I.
Aus Psyche & Phantastik, Band 1


Der alte Asiate saß stumm.
Sein fadendünnes Haar, lang und grau, ragte, gleich Brückenseilen, die im Nebel verschwinden, vom Wind getragen, horizontal ins Leere. Abenteurer überqueren solche Brücken, die, von maroden Stricken gehalten, über verwilderte Abgründe führen. Solange bis sie unter irgendeiner Last reißen und das Holz der Brückenplanken unwiederbringlich in die Tiefe stürzt. Lederne Hüte, abgewetzt und abgetragen - Abenteurerhüte und Peitschen.
Soweit man blicken konnte umgaben stufenartig angelegte Gärten die Terrasse, auf der wir saßen und uns anschwiegen. Eine schwere, alles erdrückende Schwüle lag in der Luft, hier im Süden Tabogas gab es keine Jahreszeiten, keine nächtliche Abkühlung, keine noch so geringe klimatische Veränderung der Lebensbedingungen. Dies war nicht Europa, nein, es war nicht einmal mehr die Erde.
Ich werde Ihnen davon erzählen, wie es mich hierher verschlagen hat, alleine und - bisher - ohne eine Möglichkeit der Rückkehr.
Träume von Raumschiffen, gigantischen Sternenkreuzern, tonlos blinkend inmitten der unendlichen, luftlosen Schwärze des Alls, erfüllen meine Nächte, rauben mir den Schlaf, einen Schlaf, der in diesem Klima so oder so nichts wert ist.
Ein fremdartiges Insekt beginnt uns zu umschwirren. Inzwischen weiß ich, dass diese gefährlich anmutenden Wesen harmlos sind, weil sie ihr tödliches Gift, das sie durch einen langen Stachel injizieren, ausschließlich gegen die bevorzugte Beute, den tabogischen Fleischwurm zum Einsatz bringen. Dennoch bleibt es irritierend, die faustgroßen Kreaturen in unmittelbarer Nähe zu wissen. Vom lauten, enervierenden Summen, das sie erzeugen, ganz zu schweigen.
Seit nunmehr zehn Tagen warte ich darauf, dass der Asiate mit mir spricht. Er ist das einzige menschliche Wesen, dem ich in dieser Welt bisher begegnet bin. Ich erhoffe mir genauere, über meine eigenen Mutmaßungen hinausgehende, Informationen darüber, wo genau ich mich befinde und wie ich vielleicht nach Hause zurückkehren kann.
Das widerwärtige Insekt verflüchtigt sich, schwirrt träge durch einen der glaslosen, gotischen Fensterbögen hinaus in die erdrückende Schwüle des Nachmittags. Affenartige Diener kommen und gehen. Manche sehen nach dem Rechten, andere bringen Tee und platzieren silbern ziselierte Tassen und Kannen auf dem Tisch.
Doch ich will mein Versprechen halten und davon erzählen, wie ich hierher gelangt bin, in diese Hölle, diese befremdliche Ausweglosigkeit meiner Existenz.

(***)

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