Montag, 27. November 2023
Kristallwelt (Henry und June/Erzählung/SF) - Part III.
(...)

Eloise gab sich alle Mühe.
Während man einen Joint herumreichte und eine Flasche Rotwein leerte, zeigte sie sich von ihrer besten Seite und scheute selbst vor einem Griff zwischen seine Beine nicht zurück. Finn jedoch - zu diesem Zeitpunkt viel zu sehr damit beschäftigt, den unsicheren Fahrstil Henrys im Auge zu behalten - erschrak eher, als dass er angemessen auf diese Geste reagiert hätte. Seine Erwiderung fiel mager aus: ein schmales Lächeln, gefolgt von einem staubtrockenen, für beide Seiten eher enttäuschenden Kuss, war alles, was er zustande brachte. Das Unglück - konstatierte er während dessen ganz für sich - ist ja praktisch gar nicht mehr aufzuhalten, wenn sich die Dinge in dieser Weise entwickeln.
Doch zunächst geschah, all seinen bösen Ahnungen zum Trotz, nichts weiter. Grübelnd kauerte er neben Eloise auf dem Rücksitz und haderte mit dem Schicksal. Wie sich bald zeigen sollte, ein kurzer, trügerischer Friede, der, gerade als Finn nahe daran war, sich mit den Umständen dieses ersten Dates mit Eloise abzufinden, so abrupt endete, wie er eingetreten war.
Es kam, einer Verifikation chaostheoretischer Prognosen gleich, zu mehreren unheilvollen Vorkommnissen, die sich allesamt im selben Augenblick ereigneten: June, die vorne neben ihrem zukünftigen Mann saß, zog sich zu viel Rauch auf ihre Lungen und brach, als wäre dies die kakophone Ouvertüre für alles, was noch folgen sollte, in ein hartnäckiges, trockenes Husten aus; Eloise indes, die wunderschöne, begehrenswerte Eloise, offensichtlich beleidigt, weil Finn ihre Bemühungen in nicht ausreichendem Maße zu würdigen gewusst hatte, hob, feine, filigrane Seufzer ausstoßend, neben ihm an, sich selbst zu befriedigen - und Henry? Nun, Henry, hektisch bemüht, den Schleier, der sich immer wieder über seine Augen legte, doch noch rechtzeitig wegzublinzeln, steuerte schwitzend und zitternd auf eine Haarnadelkurve zu, die - das wurde Finn in jener Sekunde bewusst, in der das Heck des Wagens erstmalig leicht zur Seite driftete - sie alle auf eine alte Eisenbahnbrücke zuführen würde.
Wie ein Alpinist, der sich auf dem Rückweg vom Gipfel eines Achttausenders zur Rast niederlässt - sicher und unsicher in einem - gefror der Moment zu einem endlosen Abbild der Ewigkeit, eingeätzt auf photochemischen Platten aus vertaner Zeit. Dann geriet der Wagen endgültig aus der Bahn, flog aus der Kurve, durchbrach marode Brückengeländer und schwebte grotesk still in die Leere des Frühabendhimmels hinaus; die Reifen, nunmehr ohne Gripp, drehten sich weiter und weiter, so, als suchten sie den verlorenen Halt doch noch irgendwie wiederzugewinnen.
Finn begriff, dass keiner von ihnen sein Ziel erreichen würde, nicht an diesem Abend und nicht mehr in diesem Leben. Er kniff, ein abschließendes Gebet an den Kristallgott sendend, die Augen zusammen, wartete, atmete und
- als nichts passierte, schlug er sie wieder auf.
Draußen breitet sich ein rötlicher Spätabendhimmel aus, gezeichnet von länglich hingestreckten, dunkelvioletten Wolkenbänken, deren Ränder - von der zergehenden Sonne zu einem letzten Höhepunkt des Tages erkoren - grell gelb glühten. Ein Bild, zum Sterben schön.
„Ist dies das Paradies?“, fragte sich Finn.
Und: „War es ein gutes Leben, das ich geführt habe?“
Noch ehe er Antworten auf seine Fragen finden konnte, platzten die Echos panischer Schreie in den Kokon, der ihn so sanft und letztgültig zu umschließen begonnen hatte, und - nur wenig später - prallten sie auf.

(...)