Mittwoch, 17. Januar 2024
Incarnation 3000 - A Weird Tale - (Erzählung/Weird) - I/Der Waldläufer.
(i).

Base.

Sein erfahrungsgeschulter Blick, der Blick eines Waldläufers, stach voraus über die zäh fließenden Wassermassen des Flusses. Es war noch früh am Morgen, und die Natur schien noch in tiefem Schlummer zu liegen. Selbst die sonst so allgegenwärtigen Schreie der bunt schillernden Riesenaras waren noch nicht zu hören gewesen, ebenso wenig wie das Gebrüll der gewaltigen Tigerechse, des gefährlichsten Raubtiers in diesem Teil des Dschungels.
Ein Hauch kühler Luft strich über sein Gesicht, gut, dass er seine alte Fellmütze mitgenommen hatte auf diese Fahrt.
Immer noch fragte er sich, was das Ganze überhaupt zu bedeuten hatte. Warum war er von dem Fremden, der ihn gestern in seinem Lager aufgestöbert hatte, über den Zweck der Fahrt im Unklaren gelassen worden?
Gegen Abend des gestrigen Tages war der Fremde plötzlich aufgetaucht und hatte sich zu ihm ans Feuer gesetzt. Nach Sitte der Waldläufer war es unumgänglich gewesen, ihm Gastfreundschaft zu gewähren, einen Platz zum Schlafen für die Nacht und eine warme Mahlzeit.
Der Fremde hatte nicht viel gesprochen in den ersten Stunden seiner Anwesenheit. Nach dem Essen jedoch, als sie gemeinsam eine Pfeife würzigen Naturtabaks rauchten, begann er zu erzählen. Sein Gesicht war dabei nur undeutlich im flackernden Schein des Lagerfeuers zu erkennen gewesen
Er erzählte von seinen Reisen entlang des Flusses, von den seltsamen Wesen, die er getroffen hatte, und von den befremdlichen Sitten und Gebräuchen der Arookie, jenes mysteriösen Volks, das die Dschungelregionen nahe des Flussufers bevölkerte, und dieses Gebiet als seine angestammte Heimat ansah.
Auch der Waldläufer kannte die Arookie.
Von Zeit zu Zeit gewahrte er Schatten hinter massigen Bäumen, wenn er, auf schmalen Pfaden, die er zum Teil selbst geschlagen hatte, durch die Tiefen des Dschungels streifte. Gelegentlich zeigte sich ein wild bemaltes Gesicht, starrte von einem hoch gelegenen Baumwipfel stumm auf ihn hinab, ausdruckslos, fremd, und verschwand dann genauso schnell und plötzlich wie es erschienen war. Noch nie hatte der Waldläufer die Chance gehabt, einen der geheimnisvollen Ureinwohner näher in Augenschein zu nehmen, noch nie war es ihm gelungen, Kontakt aufzunehmen. Zu scheu war dieses Volk, zu unheimlich erschienen ihm offenbar die weißen Menschen, mitsamt ihren Werkzeugen, Maschinen und Gegenständen, die sie zur Erzeugung seltsamer und potentiell tödlicher Zauber einsetzten.
Als das Feuer niedergebrannt war und die Schlafenszeit näher rückte, hatte der Fremde den Waldläufer für einen kurzen Moment eindringlich angesehen und nach der Möglichkeit eines Gefallens gefragt, den dieser ihm erweisen könne. Der Waldläufer hatte sich nach der Art des Gefallens erkundigt und daraufhin die Bitte erfahren, am nächsten Tag flussabwärts zu fahren, um an einer bestimmten Stelle, etwa zehn Meilen von ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort entfernt, auf ihn zu warten.
Mehr könne er nicht sagen, mehr dürfe und wolle er nicht sagen, hatte der Fremde behauptet.
Der Waldläufer war sehr verwundert gewesen, aber als ihm noch einmal versichert worden war, dass kein Grund zur Sorge bestand, hatte er schließlich zugesagt. Er erinnerte sich noch genau an die letzten Worte des seltsamen Besuchers: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin ein aufrichtiger Mann. Meine Motive sind von ehrlicher Natur. Es ist wirklich keine große Sache, vollkommen ungefährlich und selbstverständlich - absolut legal. Lassen sie sich nicht von meiner Geheimniskrämerei erschrecken. Es tut mir selbst ein wenig Leid, da ich ansonsten die Offenheit stets vorziehe, aber das alles dient ausschließlich der Sicherheit. Schlafen sie gut, und seien Sie nochmals bedankt. Ich werde Sie jetzt verlassen, wir sehen uns morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang an der großen Flussbiegung unterhalb des alten Steintempels.“
Mit diesen Worten war der Fremde verschwunden. Blitzschnell war er in das nahe Dickicht des Waldes eingetaucht und mit dem unendlichen Grün des Dschungels verschmolzen.
Der Waldläufer hatte sich zur Ruhe begeben, hatte sich vor seiner Hütte ausgestreckt und bevor er in tiefe Träume versank noch das letzte Aufflackern des sterbenden Feuers genossen.
Noch etwa zwei Meilen bis zur großen Flussbiegung.
Hier in dieser Region war die Zivilisation noch weitestgehend ohne Einfluss. Alles war Natur, urwüchsig, manchmal beängstigend, stark und zeitlos. Die nächste Handelsstation befand sich ein gutes Stück den Fluss hinab, beinahe ganz an dessen Ende, dort wo er sich verzweigte, um, in drei Arme geteilt, noch etwas weiter unten ins große Meer zu münden. Dog Town lag dort unten, angefüllt mit verwahrlosten Glücksrittern, Spielern, Goldsuchern, windigen Typen und Möchtegern-Entdeckern. Den Waldläufer zog es selten dorthin.
Dort erschien die Flussbiegung.
Der Waldläufer verlangsamte sein Boot und steuerte es auf das linke Ufer zu. Ein alter und verwitterter Steinbau, eine der rätselhaften Tempelruinen unbekannter Herkunft, wie sie im gesamten Flussgebiet an den unterschiedlichsten Orten verteilt lagen, markierte die Stelle, an der der Fremde sich mit ihm verabredet hatte. In Stein gearbeitete Masken mit kreisrund geöffneten Mündern und ebenso kreisrund, weit aufgerissenen Augen starrten ihn an, als der Waldläufer das sorgfältig verankerte Boot verließ, um durch das flache Wasser der Uferregion an Land zu waten. Dort angekommen ließ er sich auf einem Stein nieder und wartete auf den Fremden. Gelegentlich sah er, um sich zeitliche Orientierung zu verschaffen, hinauf zur Sonne. Noch etwa eine halbe Stunde bis zum vereinbarten Zeitpunkt.

*

(...)

***

Aus der Textsammlung - "Phase IV:Die Legende vom Bewahrer".