Freitag, 10. November 2023
Aufgerüstet: I/Flucht (Fragmente).
Jetzt, in diesem Moment, in dem er auf einem Stein saß und den kläglichen Rest Fleisch von einem schmutzigen Knochen nagte, verfluchte er alles, was ihm zugestoßen war: den Umstand, dass er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war, das Weltentor – einfach alles. Früher hätte man ihn einen glücklichen, einen ganz normalen Mollock nennen können, auch wenn ihm das zu jener Zeit nicht bewusst gewesen war. Er hatte zufrieden vor sich hingelebt, Menschen gejagt, ihr süßlich-rotes Fleisch verzehrt und damit das Bild eines respektablen Mitglieds seines Stammes abgegeben. Alles war also in Ordnung gewesen, bis zu jenem Tag in den Wäldern, an dem der seltsame Fremde aufgetaucht war, eine lächerliche Erscheinung in einem klobigen Anzug, mit einem gigantisch erscheinenden Helm über dem Kopf - eine zwingend notwendige Vorrichtung, um die Leere zwischen den Welten zu überwinden, wie Olmo inzwischen wusste.
Er erinnerte sich noch genau an die Worte, die er und das seltsame Wesen miteinander gewechselt hatten.
„Sei gegrüßt, mythisches Wesen einer unbekannten Welt“, hatte die Gestalt ihn - ein wenig zu pathetisch, wie Olmo damals fand - begrüßt und ihm dabei die behandschuhte Pranke entgegengestreckt.
„Ach, wäre ich nur davongelaufen“, seufzte Olmo, für einen Augenblick aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurückgeworfen, wobei er den inzwischen restlos abgenagten Knochen wie nebenbei ins Feuer warf, „dann wäre das alles nicht passiert.“
Doch Jammern, das wusste er selbst am besten, half nichts. Es war zu spät. Die Vergangenheit war nicht zu ändern.
Die pure Neugier hatte ihn seinerzeit dazu getrieben, auf den Kontaktversuch des Fremden einzugehen. Stumm hatte er zunächst dabei zugesehen, wie der Mensch, als der er nach und nach erkennbar wurde, seinen schmächtigen Körper aus der voluminösen Hülle geschält und sich von diversen Gerätschaften, die größtenteils auf seinem Rücken befestigt gewesen waren, befreit hatte. Dann waren sie ins Gespräch gekommen. Zu Olmos größtem Erstaunen, hatte der Fremde seine Sprache beherrscht. Ebenfalls eine Tatsache, die er sich mittlerweile zu erklären wusste, denn schließlich war es aus irgendeinem Grund einfach völlig normal, dass ein Weltenreisender, sobald er den Übergang bewältigt hatte, die Sprache der jeweiligen Sphäre, die er betrat, automatisch beherrschte.
Und darüber hinaus hatte das ganze ja auch umgekehrt funktioniert.
Ja, Olmo selbst war bereits einmal in eine andere Welt gereist, hatte selbst einen jener merkwürdig unförmigen Anzüge getragen und war dem Fremden durch die schwarze Leere, die wie ein dunkles Nichts gewesen war, in dessen Welt gefolgt.
„Ach, wenn mir der Anzug doch ein Stück zu klein gewesen wäre, sodass ich ihn nicht hätte tragen können.“, seufzte Olmo erneut und erhob sich von seinem Stein, um das Feuer zu löschen.
Während er über die Feuerstelle urinierte und dem von wütendem Zischen begleiteten Plätschern lauschte, das er hervorrief, drifteten seine Gedanken wieder in die Vergangenheit ab.
Wie ungewöhnlich war doch diese Welt gewesen, in die er hinübergewechselt war. Völlig anders als FantasyIsland. Glänzende Städte aus Metall und Glas hatte es dort gegeben und Menschen, Menschen, Menschen – so viele, dass man sie wohl kaum hätte zählen und erst recht nicht alle jemals hätte verspeisen können.
Besonders dieser Umstand hatte Olmo mehr als alles andere verunsichert, denn das dünnhäutige Volk war ihm bis zu diesem Zeitpunkt nur als schwach bekannt gewesen, wenig intelligent und nur in begrenzter Anzahl vorhanden. Hier, auf FantasyIsland, waren sie nicht mehr als eine leichte Beute, eine bequeme Nahrungsquelle, nicht nur für Mollocks, wie ihn, nein, auch für die Zyklopen und die Rocks, die ebenfalls ganz versessen auf ihr zartes Fleisch waren.
Das Feuer erlosch, und Olmo machte sich auf den Weg zu der Felsenklippe, die ihm in den vergangenen Tagen, in denen er hier gelagert hatte, als Aussichtspunkt gedient hatte. Ein steil nach oben vorspringender Fels, von dem aus er den Talkessel, welcher den einzigen Zugangsweg zu den Bergwäldern, in denen er sich versteckt hielt, darstellte, in seiner Gesamtheit überblicken konnte.
Unterwegs versuchte er ein weiteres Mal die nutzlosen Gedanken an die Vergangenheit zu verdrängen, aber es war nicht einfach. Seit der Aufrüstung funktionierte sein Verstand außergewöhnlich präzise, und so standen ihm seine Erinnerungen stets beängstigend plastisch vor Augen, wann immer er sie abrief oder zufällig mit ihnen konfrontiert wurde. Was haben sie mir nicht alles versprochen, dachte er, während er zielstrebig den steilen Abhang weiter hinaufstieg, Macht, Einfluss, eine führende Stammesposition - Verlockungen, denen er nicht hatte widerstehen können. Wer schließlich träumte nicht von Macht und Reichtum oder den vielen, üppig ausgestatteten Mollockmädchen, die sich unvermeidlich um einen Helden, der in unbekannte Welten gereist war, reißen würden? Alles Illusion, alles Lug und Trug, dachte Olmo noch, bevor es ihm endlich doch gelang, die Vergangenheit für eine Weile hinter sich zu lassen.
Mühsam kletterte er die letzten Meter hinauf auf den hoch gelegenen Felsvorsprung. Die gewaltigen Silhouetten der Rocks kreisten am wolkenlos blauen Himmel, das gleißende Sonnenlicht des Mittags zwang ihn, die behaarte Hand an die vorspringenden Augenwülste zu legen, um sie für einen Moment zu beobachten, bevor er seine Aufmerksamkeit auf den unter ihm gelegenen Talkessel richtete.
Der etwa sechs Meilen breite Kessel lag still und friedlich zwischen den grau aufragenden Felswänden, ein im Sonnenlicht glitzernder Bachlauf, der sich zwischen Grasmatten und kleinen Baumgruppen aus dunklem Tann hindurchschlängelte, teilte ihn der Länge nach.
Dann sah er sie.
Zunächst war er sich nicht sicher. Womöglich handelte es sich ja auch nur um eine Herde wilder Bergziegen, die das fruchtbare Höhental als Futterplatz nutzte. Dann jedoch gab es plötzlich keinen Zweifel mehr: der dunkle Pulk vorwärts drängender Punkte in der Ferne ergoss sich wie eine Lawine durch den schmalen Zugang am anderen Ende des Tals. Mollocks.
Olmo fluchte.
Fünf oder sechs Stunden - mehr Zeit blieb ihm nicht. Er musste das Tor finden - so schnell wie möglich.
Kurz wägte er die Möglichkeiten ab, die ihm noch blieben.
Natürlich wäre es möglich, immer weiter hinauf in die Berge zu flüchten, aber je höher er kommen würde, daran bestand kein Zweifel, umso schwerer würde es werden, zu überleben. Nicht nur die Kälte bereitete ihm Sorgen, nein, auch Nahrung würde, sobald er über eine gewisse Grenze hinausgelangte, nur noch schwer zu finden sein.
Er wandte sich ab und kletterte von seinem Aussichtpunkt hinab. Zwei Stunden Wegstrecke lagen noch vor ihm, ehe er an die Stelle gelangen würde, an der er das Weltentor letztmalig durchschritten hatte - damals, anlässlich seiner Rückkehr aus der Welt der Menschen.


(...)