Freitag, 20. Juni 2025
Nietzsche-Analysen: Reaktionen auf Losurdo/2009.



I.

Der „junge“ Nietzsche - oder - „Die Geburt der Tragödie“/1872.

Es ist klar, dass Nietzsche in seiner gesamten Entwicklung von der "Geburt der Tragödie" (1872) aus gesehen werden kann, und eigentlich "muss". Am Anfang steht ganz zweifelsfrei diese eine, erste Dichotomie, in die er sich da hineinvergräbt. Apollo/Dionysos.
"Die Geburt der Tragödie (aus dem Geiste der Musik)" ist sein erstes voll- und eigenständiges, veröffentlichtes Buch, und im Rahmen der letzten Benachrichtigungen seines ursprünglichen Geistes, den sogenannten "Wahnsinnszetteln" (1889 - kurz bevor er schließlich in Turin weinend das geschundene Pferd umarmt und geküsst hat), findet sich immer noch genau diese eine, erste Dichotomie - jetzt, nur leicht variiert, beispielsweise in der Formulierung "Dionysos gegen den Gekreuzigten", mit der er einen dieser "Wahnsinnszettel" unterzeichnet.
Die Ursprungsdichotomie Apollo/Dionysos ist - so, wie sie von Nietzsche gemeint ist - relativ schwer in ihrer Bedeutung herauszusarbeiten, weil man zuerst immer an die Gemeinplätze denkt, die mit den Namen dieser beiden Götter, bzw. Halbgötter (Dionysos), verbunden sind. Das Rauschhafte, Orgiastische, teils Teuflische, mit "Dionysos" ("Pan"), das Ordentliche, Geregelte, lichte Selbstbeherrschte mit "Apollo".
Das ist - im Prinzip - auch richtig, greift aber im Zuge der deutschen, philologischen, philosophischen und kulturellen Debatte des 19. Jahrhunderts deutlich zu kurz. Nietzsche meint - rückgreifend auf das seinerzeit generell idealisierte, antike Griechenland - eher den Gegensatz zwischen einem tiefgründigen Leben (und einer tiefgründigen Gesellschaft) in Kontakt zum Mythos und einzig ausgerichtet auf die Verwirklichung von Genius und wahrer Kunst (Dionysos), im Gegensatz zur „Apollonischen Heiterkeit" desjenigen, der ein geregeltes, geordnetes Leben führt, das aber alleine auf weltlichen und materiellen Genuss, auf bequeme, weltliche und materielle Vergnügungen abzielt, ein Leben ohne jegliche Verbindung zum Mythos und zur Tiefe, ein unernstes Leben, eine unernste Gesellschaft, „Kunst" und „Kultur“ (Apollo).
Rück- und überblickend lässt sich sagen, dass sich Nietzsches entlang der Ursprungsdichotomie "Apollo/Dionysos" verlaufendes Denken dieser frühen Jahre, im Kern, sämtlich um die damals ausnahmslos in allen Bereichen des Lebens, der Gesellschaft, der Politik und Kultur fortschreitende „Moderne" dreht. Nietzsches Polemik zu diesem Zeitpunkt war, im Kontext einer populären Strömung der seinerzeit allgemeinen, zeitgeschichtlichen Entwicklung, strikt gegen diese „Moderne" in all ihren geistigen Erscheinungsformen gerichtet, - gegen das seinerzeit in Deutschland immer stärker aufkommende, kommunistische Heilsversprechen eines sorglosen, glücklichen Lebens für alle, insbesondere das profane und besitzlose Heer der Arbeiterklasse im Sinne von Karl Marx und Engels, - gegen die aufklärerische, im Zuge der Französischen Revolution/1789 groß gewordene, These der Gleichheit aller, - gegen die zuvor jahrzehntelang dominierende, französische Lebensart des leichtfertigen Esprits und der Oberflächlichkeit (der er selbst die Tiefe des deutschen Geistes entgegensetzt), - gegen den Aufstand der gedankenlosen Masse in ihrem Verlangen nach einer ausschließlich noch dem Zeitvertreib, der Unterhaltung, der Ablenkung und dem Vergnügen dienenden „Kunst" und „Kultur" (woraus sich zuletzt, während der philosophisch mehr unabhängigen und weniger aktuell-polemischen Phase seines späteren Denkens, auch die berüchtigte, fundamentale Verurteilung des Christentums als einer „Religion der Sklaven und Schwachen" entwickelt). All diese Phänomene der "Moderne" galten ihm als Entfremdung und Bedrohung des wahren "Genius", der wahren Kunst, der wahren menschlichen Natur und der natürlichen Ordnung. Er sah in ihnen nichts, als Lügen, Heucheleien, fehlgeleitete Ideale, verdrehte und falsche Moralvorstellungen, die in letzter Konsequenz unvermeidlich zu Chaos, Barbarei und zivilisatorischem Untergang führen würden.
Einordnend zu all dem muss man aber auch sagen, dass der "junge" Nietzsche in diesen Jahren - extrem romantisierend und idealisierend - in den damaligen, philologischen, politischen, künstlerischen, kulturellen Debatten gefangen war, und, vor allem, auch unter dem mächtigen Einfluss Richard Wagners stand, in dessen engerem Kreis er sich (ganz offenbar auf der Suche nach einer Vaterfigur) bewegte, den er "Meister" nannte, aufs höchste verehrte, und in dessen Sinne er polemisierend in die Debatten eingriff. Der spätere, unabhängigere Nietzsche hat sich dann wesentlich mehr in tatsächlich philosophischen Sphären bewegt, obwohl er sich von der in seinen akademischen Jahren entwickelten Ursprungsdichotomie des Dionysisch/Apollonischen, und - noch entscheidender - dem dichotomen, dualistischen Denken an sich, bis zum Ende seines bewussten Lebens nicht mehr befreien konnte.
Zuletzt schließlich wurde sein Geist von dieser für ihn nicht mehr aufzulösenden, grundsätzlichen Dualität des eigenen Denkens zerrissen (Thesis1).
Und so scheint "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1872), sein erstes, veröffentlichtes Buch, bis heute auch, nicht zuletzt und tatsächlich vor allem, als das Fanal der Geburt seiner eigenen, psychologischen Tragödie auf.

II.

Losurdo - und - die genetische Schwäche links-intellektueller Analyse.

(...)

(In Progress)

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