Donnerstag, 7. August 2025
Das Kollektiv. (Erzählung/SF).
In einer aufwallenden Staubwolke landete die Akte auf dem Boden. Niemand hatte sie herausgezogen, keine Hand hatte nach ihr gegriffen oder sie berührt, jetzt und seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr. Als wäre ein plötzlicher Windstoß durch sie hindurchgefahren, bewegten sich raschelnd die eingespannten, synthetischen Seiten und, wie zufällig, blieben sie in einer vorherbestimmten Position still und offen liegen.
Seine gewebelosen Augen machten sich ans Lesen.

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Aktennotiz - 00/01.

New Washington - März 2098.
Dies sind die Aufzeichnungen des Insassen Ohio-33467, aufgefunden nach seinem Tod in den frühen Morgenstunden des 11. Juni 2095. Obwohl die nationale Untersuchungskommission vehement an den Schilderungen des Selbstmörders zweifelt - ja, geneigt ist, sie für die grotesken Fantasien eines durch und durch Wahnsinnigen zu halten -, wird empfohlen, sie dem Kollektiv zugänglich zu machen. Wir übersenden Ihnen hiermit das Ergebnis unserer Untersuchung, samt einiger von uns markierter (ins Kursiv gesetzter) Passagen, die wir dringend zur Zensur anraten, da sie ein unerwünschtes Licht auf das Zellensystem werfen könnten. Der Text selbst gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste eine kurze, allgemeine Einführung zu den Zellensystemen selbst, ihrer Geschichte und Funktion, sowie den in diesem Fall relevanten Ereignisse beinhaltet, während der zweite die entarteten, von ihm selbst formulierten Fantasien des toten Insassen Ohio-33467 im Original wiedergibt.

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Der beigefügten Aktennotiz folgte der eigentliche Text, und obwohl er die Geschichte bereits kannte, las er weiter, vertiefte sich für einen zeitlosen Augenblick in die Sätze und Worte, die er, zumindest was den zweiten Teil betraf, vor langer Zeit einmal eigenhändig verfasst hatte.

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Metallische Gehäuse, fensterlos, hermetisch abgeschlossen, ohne unmittelbare Verbindung zur Außenwelt, Hunderttausende von ihnen existieren in den unzugänglichen Regionen der Hochgebirge oder den unauslotbaren Tiefen verschiedener Höhlensysteme weit unter der Oberfläche der Erde. Ihr Sinn und Zweck besteht in der gezielten Anregung und Förderung menschlicher Kreativität, einer kompromisslosen Ausreizung des in dieser Hinsicht abrufbaren, neurologisch-hormonellen Potentials. Jedem Mitglied des Kollektivs steht es mit Vollendung des dreiundzwanzigsten Lebensjahres frei, sich wirksam für den Rückzug in eine dieser hermetisch abgeschlossenen Zellen zu entscheiden. Man stellt einen einfachen Antrag, und erlangt meist ohne weitere Komplikationen die Erlaubnis dazu. Bereits wenige Tage später wird die digitale Tonfolge des persönlichen Postempfängers den Eingang der Informationen zu Lagebedingungen und Standort des zugewiesenen Zellensystems anzeigen, und man verlässt seine Wohneinheit, verschließt ein letztes Mal die Tür hinter sich, um von da an ein ehrenvolles Leben im Dienste des Kollektivs zu führen. Sämtliche privaten Besitztümer werden zurückgelassen. Sie verbleiben in den Wohneinheiten der Antragssteller und werden später gegebenenfalls unter den Bedürftigen des Kollektivs verteilt. Nichts ist zur Mitnahme erlaubt, außer Büchern, digitalisierten Wissensbeständen und, vielleicht, individuellem Schreib- und Arbeitsmaterial. Alles andere, das der eine oder andere noch zu benötigen glaubt, muss nach Bezug der Zelle vor Ort beantragt werden. Seit Jahrzehnten resultieren alle bedeutenden Entdeckungen der logisch-empirischen Wissenschaft, aber auch der Geisteswissenschaft, der Kunst, der Theologie, der Philosophie, einzig aus der gezielt herausgeforderten und streng überwachten Kreativität der Zellenbewohner, denen - solange sie ihre Aufgabe erfüllen - ein sorgloses und bequemes Leben garantiert wird, einsam und spartanisch zwar, doch gänzlich frei von existentiellen Ängsten irgendeiner Art: man sorgt für sie, umgibt sie mit all der Sicherheit, die sie benötigen, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Natürlich - wie sollte es anders sein - provoziert diese Verheißung vollkommener existenzieller Sorglosigkeit immer wieder auch den Versuch des Missbrauchs. Diesbezüglich haben die Zellensysteme des Kollektivs mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie alle anderen, absichernden, staatlichen Versorgungs- und Wohlfahrtssysteme der Vergangenheit auch. Jedoch - der Ablauf des Lebens in der Abgeschiedenheit der Zellen lässt solche Missbrauchsversuche nicht lange unentdeckt. Wände, Fußböden und Decken der Zellen sind mit hoch sensiblen Messeinrichtungen durchsetzt, die unablässig, in jedem Augenblick, die geistige Leistungsfähigkeit der Bewohner aufzeichnen, den Aktivitätsgrad des neurologischen Apparats erfassen, um mittels modernster Technologie diejenigen Parameter zu errechnen, die darüber Aufschluss geben, ob und in welchem Maße der Eingeschlossene noch produktiv funktioniert oder - im Gegenteil - in ein neurologisch dumpfes, ziel- und nutzloses Dahinvegetieren unter dem festgelegten Schwellenwert verfallen ist.
Letzteres ist selbstverständlich unter keinen Umständen erwünscht, es kann nicht toleriert werden.

(...)