Donnerstag, 20. März 2025
Short Cuts I/TOT/1997-1999 - XXVII./Sie sind überall!
„Sie sind überall, glaub‘ mir! Sie beobachten mich, ich muss sehr, sehr vorsichtig sein!“ Zuckend, ruckartig, abrupt, sah er sich um, immer und immer wieder. Sah nach oben, sah nach links, nach rechts, und immer wieder auch nach hinten, so als befürchte er das Nahen einer plötzlichen Gefahr. „Am besten“, sagte er, „ist es, wenn man so tut, als wäre man verrückt. Verstehst du? Das Spiel mitspielen, so tun, als ob!“ Seine Augen flackerten. „Dann erkennen sie dich nicht, belächeln dich im schlimmsten Falle, aber sie erkennen dich nicht. Das ist wichtig, und der einzige Weg, glaub mir! Auf keinen Fall dürfen sie bemerken, dass du normal bist, dass du ihr Spiel durchschaut hast. Hör gut zu, es ist die Wahrheit!“
Für einen Moment unterbrach er seinen Redefluss.
Sein Schweigen hielt jedoch nicht lange an, und er sprach weiter, schnell, getrieben, Worte ausstoßend, die wie die Geschosse einer gerade abgefeuerten, automatischen Waffe umherflogen, und - immer wieder - verfiel er dabei auch in ein gedämpftes, verschwörerisch anmutendes Leisesprechen. „Wenn sie mich erwischen, dann werden sie mich in eines dieser dunklen Verließe schleppen. Dort unten - unter der Oberfläche der Stadt. Sie haben diese dunklen Löcher extra gegraben, um die Normalen, die Wissenden, die sich weigern das Spiel mitzuspielen, verschwinden zu lassen. Manche werden auch getötet, und niemand kommt jemals dahinter, wie und warum es geschah. Glaub‘ mir, ich weiß es! Sieh dich um: die Geschäfte, die Reisebüros, die Angebote, so verlockend, so verbindlich, die Parolen und Werbesprüche, die Regeln und Vorschriften. Sieh dir alles genau an, und dann denke nach. Denke nach! Alles so verdächtig bunt, findest du nicht?“ Wieder schwieg er.
„Sie sind überall!“
Der Widerhall seiner Worte in meinen Gedanken.
„Sie sind überall, sie kontrollieren uns, uns, die wir uns kontrollieren lassen, die wir es leidlich mögen, ihnen die Kontrolle zu überlassen. Zu faul, um Gottes Willen, zu faul, um zu denken, verstehst du? Und wir, wir Wissenden, wir können nicht mehr tun, als im engsten, vertrautesten Kreis unsere Stimmen zu erheben und laut hinauszusagen, was unbedingt ein jeder wissen, fühlen, ja - erfahren sollte.“
Seine Worte begannen in meinen Gedanken zu wuchern, breiteten sich gleich einer alles zerfressenden Zellmutation in mir aus.
„Revolution, du kennst dieses Wort?“ Seine erneut ins Verschwörerische abgleitende Stimme riss mich aus dem freien Raum meiner Gedanken - zurück in die Welt, über die er mich belehrte. „Dieses große, mächtige, erhabene Wort der Freiheit? Die Fahnen hoch erhoben in einer aussichtslosen Schlacht gegen eine überwältigende Übermacht gnadenloser, zum gewissenlosen Töten gewappneter Feinde? Sterben für den Traum vom Sieg? Märtyrer sein im Namen unseres Herrn? Ihm zu Ehren? Gerechtigkeit? Wieder und wieder?“.
Nun wurde auch ich zunehmend nervös. Wellen breiteten sich konzentrisch gleitend aus, glitten über die ansonsten bewegungslose Oberfläche des Sees, welcher der Pool meiner Gedanken war, der Pool, in dem sie sich alle versammelten, um jetzt - plötzlich - zu erstarren, sich ineinander zu verhaken, gegeneinander querzustellen, zu erfrieren.
„Ja, vielleicht hast du Recht, mit dem, was du sagst, vielleicht, vielleicht.“
Ich war nahe daran, ihm zu glauben, was er sagte.
Dann - ein letzter Schlag: „Du weißt, was ihre stärkste Waffe ist?“, fragte er. "Es ist dieses eine, unscheinbare, harmlos, wie nebenfällig erklingende Wort, das sie so unsagbar stark macht. Es ist dieses eine, ewige, unsterbliche „Vielleicht“, das den zerfallenden Eingang zu ihrem grausamen Königreich kennzeichnet, dem Königreich des Zweifels und der Relativität. Eines Tages wirst du es erkennen, so wie ich es erkannt habe, klar und deutlich und fernab des ewigen "Vielleicht". Dann komm zu uns, werde Teil der Bewegung, hilf uns, den Bann zu brechen, hilf uns, die anderen zu wecken, hilf uns, die Welt und die Menschen zu erlösen.“
Das war's.
Er stand auf und ging.
Ich alleine blieb noch eine Weile sitzen, trank sinnend den Rest meines Kaffees, genoss eine Zigarette, blickte in die Sonne, und als ich schließlich den Heimweg antrat, dauerte es, während ich mich in den Schaufenstern der unzähligen Geschäfte am Rande des Weges verlor, nicht allzu lange, bis ich ihn und seine Worte vollständig abgetan hatte.