Sonntag, 25. August 2024
Zellenengel - (Erzählung/SF) - II.
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Den Neuankömmlingen wird ein gewisser Spielraum gewährt, den man als die „Zeitspanne der Gewöhnung“ bezeichnet, schließlich ist es nicht einfach, seine Freiheit aufzugeben, um unvermittelt ein rein geistiges Leben in absoluter Abgeschiedenheit zu führen. Es erfordert ein Maß an Entschlossenheit, Talent, Gewöhnung und Zeit, das nicht jeder aufzubringen vermag.
Viele neigen dazu, sich und ihre Fähigkeiten in dieser Hinsicht zu überschätzen.
Ist die Frist jedoch verstrichen, und kann der jeweilige Insasse nicht überzeugende Gründe für die Verzögerung eines konzentrierten Arbeitsbeginns plausibel machen, so wird kein Aufschub mehr gewährt: nach einem letzten klärenden Gespräch wird der Betroffene umgehend wieder ausgegliedert und in die körperlichen Produktionsprozesse des Kollektivs zurückbeordert. Einzig einige wenige, deren zuvor erwiesene Kreativität sich nicht einstellen will oder frühzeitig versiegt, verbleiben dennoch im System und übernehmen von da an strukturelle Arbeiten, fertigen Abschriften an, zeichnen bereinigte Versionen von Graphen und Tabellen oder stellen nach handschriftlicher Vorlage exakte Skizzen und Pläne her.
Darüber hinaus kann nur der Tod den Aufenthalt des Insassen beenden.
Für alle endgültig Aufgenommenen lautet die Alternative also schlicht: anhaltende geistige Kreativität - oder vorzeitiger, physischer Tod. Die aufgenommenen Insassen sterben also entweder nach einem langen, kreativen und der Gesellschaft dienlichen Leben von alleine oder - eine zweite Möglichkeit, über die jedoch nur selten öffentlich gesprochen wird - sie beenden ihre Existenz freiwillig mittels eines schnell wirkenden und in diesem Sinne humanen Giftgases, das - sollte es notwendig sein - aus winzigen Düsen in ihre Zelle geleitet wird.
Eine beeindruckend einfache Wahl und erfrischend unkomplizierte Lebensperspektive, wenn ich mich einmal so ausdrücken darf.
Natürlich hat man - bedauerlicherweise - immer wieder auch Fälle von körperlicher Schwersterkrankung. Insassen, die an chronischen Erkrankungen leiden, werden mit Medikamenten versorgt und erhalten den Beistand eines kompetenten Mediziners, den sie nach Belieben, höchstens aber dreimal pro Woche, anfordern und konsultieren können. Er wird in den meisten Fällen den Zellenbewohnern via Monitor zugeschaltet.

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Alternativtitel: "Körperlos".