Sonntag, 11. August 2024
Zellenengel - (Erzählung/SF) - I.
In einer Staubwolke landete das Buch auf dem Boden. Niemand hatte es herausgezogen, keine Hand hatte nach ihm gegriffen oder es auch nur berührt - nicht mehr seit über tausend Jahren. Als wäre ein plötzlicher Windstoß hindurchgefahren, bewegten sich plötzlich die Seiten, raschelten, die Bindung des Buchs knarzte leise und, wie zufällig, blieb es an einer vorbestimmten Stelle offen liegen.
Seine fleischlosen Augen machten sich ans Lesen.
Ohio, 14. März 2103.
Dies sind die Aufzeichnungen des Insassen O-18184, aufgefunden nach seinem Selbstmord am frühen Morgen des 11. Juni 2101. Obwohl die Untersuchungskommission vehement an den Schilderungen des Selbstmörders zweifelt - ja, geneigt ist, sie für die grotesken Fantasien eines durch und durch Wahnsinnigen zu halten -, wurde entschieden, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Wir übersenden Ihnen hiermit den Originaltext, mitsamt einigen von uns markierten (kursiv gesetzten) Passagen, die wir dringend zur Zensur anraten, da sie ein unerwünschtes Licht auf das Zellensystem werfen.
Der Text selbst gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste eine kurze Einführung zum System selbst, seiner Geschichte und Funktion, gibt, während der zweite die entarteten, selbst formulierten Fantasien des verstorbenen Insassen im Original wiedergibt.
Der beigefügten Aktennotiz folgte der eigentliche Text. Obwohl er die Geschichte schon kannte, las er weiter und vertiefte sich in die Sätze und Worte, die er vor langer Zeit, zumindest was den zweiten Teil betraf, eigenhändig verfasst hatte.
Einfache metallische Gehäuse, fensterlos, hermetisch abgeschlossen, ohne unmittelbare Verbindung zur Außenwelt, hunderttausende von ihnen existieren in den unzugänglichen Regionen der Hochgebirge oder den unauslotbaren Tiefen verschiedener Höhlensysteme weit unter der Oberfläche der Erde. Ihr Sinn und Zweck besteht in der gezielten Anregung und Förderung menschlicher Kreativität, der kompromisslosen Ausreizung des in dieser Hinsicht abrufbaren, neurologischen Potentials. Jedem Mitglied des Kollektivs steht es mit Vollendung des dreiundzwanzigsten Lebensjahres frei, sich für den Rückzug in eines der Zellensysteme zu entscheiden. Man stellt einen Antrag und erlangt meist ohne weitere Komplikationen die Erlaubnis. Wenige Tagen später dann zeigt ein Signal des persönlichen Postempfängers den Eingang der Information zu Lagebedingung und Standort des zugewiesenen Systems, und man verlässt seine Wohnkapsel, verschließt ein letztes Mal die Tür hinter sich, um von da an ein selbstloses und ehrenvolles Leben im Dienste des Kollektivs zu führen. Sämtliche Besitztümer werden zurückgelassen. Sie verbleiben in den Wohneinheiten der Antragssteller und werden später unter den Bedürftigen des Kollektivs verteilt. Nichts ist zur Mitnahme erlaubt, außer Büchern, digitalisierten Wissensbeständen und, vielleicht, individuellem Schreib- und Arbeitsmaterial. Alles andere, das der eine oder andere vielleicht noch zu benötigen glaubt, muss nach Bezug der Zelle vor Ort beantragt werden.
Wie jeder weiß, resultieren seit Jahrzehnten ausnahmslos alle bedeutenden Entdeckungen der exakten Wissenschaft, aber auch der Geisteswissenschaft und Kunst, der Theologie, der Philosophie, einzig aus den streng überwachten Kreativitätsprozessen der Insassen jener Zellensysteme, die - solange sie ihre Aufgabe erfüllen - ein sorgloses und bequemes Leben führen, einsam und spartanisch, jedoch gänzlich frei von existentiellen Ängsten irgendeiner Art; man sorgt für sie, umgibt sie mit all der Sicherheit, die sie benötigen, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Natürlich provoziert diese Verheißung vollkommener, existenzieller Sorglosigkeit gelegentlich Versuche des Missbrauchs. Diesbezüglich haben die Zellensysteme mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie alle anderen staatlichen Versorgungs- und Wohlfahrtssysteme der Vergangenheit auch. Der Ablauf des Lebens in der Abgeschiedenheit der Zellen jedoch lässt solche Missbrauchsversuche nicht lange unentdeckt. Wände, Fußböden und Decken der Zellen sind von hoch sensiblen Messeinrichtungen durchsetzt, die unablässig in jedem Augenblick die Geistesleistung der jeweiligen Insassen aufzeichnen, den Aktivitätsgrad der Hirnareale abbilden, und so mittels zentralisierter Überwachungstechnik die Parameter errechnen, die laufend darüber Aufschluss geben, ob, und in welchem Maße, der Eingeschlossene noch produktiv arbeitet oder - im Gegenteil - in ein neurologisch dumpfes, ziel- und nutzloses Dahinvegetieren verfallen ist.
Letzteres ist unter keinen Umständen erwünscht.

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Alternativer Arbeitstitel: "Körperlos".