Donnerstag, 8. August 2024
Short Cuts I/TOT/1997-1999 - III/Allein - Die Wahrheit.
„Die Wahrheit ist nicht beliebt unter den Menschen“, sprach der Alte und ging von dannen. Einem Ziel entgegen, das er selbst noch nicht benennen konnte.
Wie sollte er auch? Unwissend, einsam, traurig wie er war, nachdem Sie ihm alles genommen hatten.
Der Junge blieb zurück und seine Stirn zeigte einen ersten Hauch der tiefen Gräben, die sich im Laufe der Jahre in sie eingraben würden.
„Die Wahrheit ist nicht beliebt unter den Menschen, versuche nicht sie Ihnen schmackhaft zu machen. Sie würden dich töten dafür. Sie leben in der Lüge, und nur die Lüge erhält sie am Leben.“
Der Junge wälzte die Worte des Alten immer und immer wieder in seinen Gedanken hin und her, hin und her. Was, um Gottes Willen, sollte er denn anfangen mit seinem Leben, wenn er es nicht der Wahrheit widmen konnte. Was blieb?
Eigentlich unterschied er sich nicht im Geringsten von dem Alten, der ihm diese Weisheit vermittelt hatte. Auch der Junge hatte alles verloren. Seinen Glauben, das, was man gemeinhin als Ideale bezeichnete. Alles lag in Trümmern, verteilte sich in formlose Brocken um ihn herum, soweit er sah.
Der Alte entfernte sich immer weiter von dem Jungen. Wurde kleiner und kleiner, während er der Auflösung entgegenging. Dann, mit einem Mal, verschluckte ihn der Horizont, und es war, als habe er niemals wirklich existiert.
Die Sonne blutete. Ihr vernichtendes Rot glühte und tauchte die Welt in ein mystisches Licht.
Eines der Einhörner sprang aus dem nahe gelegenen Wald, hob den Kopf und schrie als müsse es sterben. Die Jungfrau näherte sich ihm. Ihr weißes Gewand wogte sanft im Wind an diesem lauen Abend.
„Die Liebe wird dich retten, stolzes Pferd. Die Liebe wird dich retten.“
Sie sprach die Worte zu dem leidenden Tier, legte ihre Hand auf dessen kraftvollen Hals. Das Tier beugte die Knie, sank nieder zu Füssen des Mädchens. Dann starb es, und seine Seele entwich dem Körper im Gewand einer leisen, unscheinbaren Melodie, die geschaffen war, die Welt zu verändern.
Blumen erblühten. Bäume verneigten ihre uralten Gesichter voller Narben.
„Die Liebe wird dich retten!“.
Der Junge ging nach Hause. Durchwanderte die Felder und Wiesen, die das kleine Dorf, in dem er lebte, umgaben.
„Es ist spät, mein Sohn, eile dich, eile dich. Mutter sorgt sich. Eile dich, eile dich ... eile dich.“
Die Stimme verging. Der Junge begann zu laufen. Schneller und schneller trugen ihn seine Füße über den nunmehr staubigen Boden nach Hause.
Als er vollkommen außer Atem die Hütte seiner Eltern erreichte, waren diese nicht da. Zwar stand ein dampfender Kochtopf auf dem kantigen Herd, doch niemand antwortete auf die Rufe des Jungen.
Er senkte den Kopf. Er wusste mit einem Mal, dass er von nun an ganz alleine auf der Welt sein würde.
Keiner würde ihm mehr helfen.

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