Montag, 30. Oktober 2023
Schachtelstadt - I/Torhaus (Kurzroman/Fantasy).
„Ich denke, es wird Zeit, die Dinge miteinander zu vermischen.“
Mehr brauchte ich nicht zu sagen, denn wir alle wissen, oder sollten wissen, dass, wenn der Moment, das Momentum, die Zeit für etwas gekommen ist, keine Macht der Welt mehr imstande ist, die Sache aufzuhalten, keine.
Das gedrungene Warzenschwein mit den Riesenhauern, die aufwärts gekrümmt seine Lefzen teilten, sah mich regungslos an. Ich wiederholte meine Worte nicht, warum auch? Der tief in den glasigen Knopfaugen meines Gegenübers aufglimmende Funke tat mir die erzielte Wirkung bereits in ausreichendem Maße kund.
Hinter mir, in der Schlange der Wartenden, die - wie ich - Einlass in die Stadt begehrten, wurde es unruhig. Ohne mich umzudrehen oder sonst in irgendeiner Weise zu reagieren, vernahm ich das Gezeter der Bauersfrauen mit den großen, geflochtenen Weidenkörben auf den gekrümmten Schultern, hier und da wurden die knurrenden Stimmen einzelner Bauern laut, die – zwischen Ausspucken, Schnäuzen, Rülpsen und Furzen – unwillige Unmutsäußerungen von sich gaben.
Endlich kam Leben in den Torwächter.
Mit einem kehligen Grunzen machte er seinen Mitwächter auf sich aufmerksam, wies ihn an, die Vertretung zu übernehmen, und verschwand durch einen schmalen, für seinen Körper beinahe zu engen Durchgang in der Mauer hinter sich. Ich vernahm noch seine schweren Tritte auf der Holztreppe, die im Inneren des Stadttores nach oben führen musste, dann war es wieder an der Zeit zu warten.
Gelangweilt beobachtete ich den zweiten Torwächter, der inzwischen damit begann, die Wartenden an mir vorbei zu lotsen, sie zügig abzufertigen, einzulassen oder ihnen den Einlass zu verweigern, offensichtlich gerade so, wie es ihm in den Sinn kam. Ich zumindest, für meinen Teil, konnte seinen Entscheidungen nicht die geringste Spur von Methodik oder System abringen, seine Auswahl gestaltete sich völlig willkürlich.
Nach einer Weile vernahm ich erneut das Poltern schwerer Tritte aus dem Torhaus und Sekunden später trat, mit einem einzigen, weit ausladenden Schritt, mein mir bereits vertrauter Torwächter wieder hinaus in den Schlamm des feuchten Morgens. Dass er mein rotes Beinkleid dabei mit schmierigen Erdklumpen besudelte, ignorierte er. Stumm hielt er mir ein violettes Papier entgegen. Schweigend nahm ich es entgegen, entfaltete es und las - erst einmal nichts. Die Runen der Schachtelstadt waren mir nicht vertraut, interessante halbmondförmige, breit gestrichene Vertikale; kurz aufs Papier geschossene Haken, die hin und wieder winzigen Ohren oder Augen glichen; und schließlich Punkte. Aber darüber hinaus?
Kurze Zeit später befand ich mich mit meinem Schriftstück, das meiner Einschätzung nach einen Laufzettel darstellte, auf dem Weg durch den tunnelartigen Durchlass des Stadttores, dessen Mauerstärke ich, wie ich bald feststellen musste, grob unterschätzt hatte.
Und dann, als der steinerne Tunnel schließlich doch noch endete, trat ich hinaus in meinen ersten, kühlen Märzmorgen innerhalb der Mauern der Stadt.

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Samstag, 28. Oktober 2023
Baum des Lebens (Okkult/Abschlussdatei).
Sephirot - Sphäre 9 - Yessod/Fundament - Der Mond - Das Tor

Wir befinden uns an der Schwelle zur höheren Welt, und damit an der Schwelle zu wahrer Erkenntnis, an der Schwelle einer langen Reise, dem ersten Schritt hinaus. Ein Durchschreiten des Tors birgt bereits den Quell unmöglicher Rückkehr in sich. Straflos noch, aber bereits gegeben.
Die Farbe: Silber. Das Silber des Mondes.
Yessod, Sphäre 9, steht noch in engem Kontakt zu drei von vier/fünf Elementen.
Mit dem Element der Erde verbindet sie vor allem Nähe, der kurze Weg, der Weg der Welt, der die Nummer XXI trägt. Er führt - folgt man dem Pfad der weisen Schlange - hinauf von Sphäre 10 - dem Reich/Der Erde/Malchut - zu Sphäre 9 - zu Yessod/Mond.
Es ist der ersten Gedanke, der erste Zweifel, der erste Blick über den Horizont der Welt hinaus.
Mit dem Element der Luft ist Yessod primär über die wahre Zuordnung des Baumes verbunden, der mittleren Säule des Ausgleichs, der Harmonie und der Balance, die, folgt man dem Pfad des göttlichen Blitzes, den Strom der Luft, der aus der höchsten Sphäre - Kether - Sphäre 1, durch Typhon‘s Abgrund mit all seinem Grauen, über Daath hinweg, zur Mitte und zum Zentrum führt, zu Sphäre 6 - zu Tipharet - zur Sonne, um dort, geteilt, gespiegelt, umgekehrt durch Proketh’s Schleier, das Innere vom Äußeren, den Grad des Minor und des Major, unter höchster Achtsamkeit zu trennen. Sodann von Tipharet hinab zu Yessod. Auf jenem Weg, der „Ausgleich“ oder „Kunst“ geheißen, und der die Frage der Materie stellt.
Indes: der nahe Weg zum Wasser geht über den Mond im Silberglanz, von lauen Wellen eines Sees bei Nacht gespiegelt und verzerrt.
Feuer und Geist sind hier nur ein Gerücht.

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Sonntag, 22. Oktober 2023
Kristallwelt (Henry und June/Erzählung/SF).
Alles schien vorbereitet für einen wundervollen Abend und, wie er hoffte, eine ebenso wunderbare Nacht. Er war frisch gebadet, Gel formte seine Haare, der Anzug, den er sich extra zu diesem Anlass gekauft hatte, stand ihm prächtig. Es war sein erstes, offizielles Date mit Eloise, und eigentlich - hätte nichts schiefgehen dürfen.
Als es so weit war, trat er aus der Tür, stieg in den Wagen und befand sich auf dem Weg. Im lauwarmen Schein des Sonntagnachmittags trieb er sein Fahrzeug federnd über die Straßen der Vorstadt, das Fenster heruntergekurbelt, den Arm weit hinausgelehnt. Aus den Boxen seines altmodischen Autoradios dröhnte laut eines seiner Lieblingslieder aus den Siebziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts.
Kurz hielt er an einem Blumenautomaten und zog ein paar blaue, künstliche Lilien aus einem der Fächer, dann trieb es ihn auf den Sternenboulevard hinaus, dessen Verlauf ihn, gerade wie eine sorgsam ausgelegte Schwarzpulverspur, durch das kristallene Zentrum der Stadt führen würde: vorbei an all den prunkvoll-klassizistischen Palästen aus geschnittenem Bergkristall, vorbei am kürzlich erst eröffneten Zeitdom, einem architektonischen Monstrum aus Marmor, honigfarbenem Bernstein und Glas. Finn erschauerte, als vor seinem geistigen Auge das Bild des Kristallgottes auftauchte, dessen Statue hoch oben in der Kuppel des Doms frei in der Luft schwebte, die Arme, wie um alles und jeden in sich zu begreifen, zu beiden Seiten hin ausgestreckt.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem er den majestätischen Bau das erste Mal besichtigt hatte, erinnerte sich daran, wie ihm der Atem gestockt hatte, während er hinauf in die bunte Explosion des prismenhaft erstrahlenden Lichts gestarrt hatte - voller erhabener Gefühle, voller Ehrfurcht, ein staunend aufgesperrter Mund unter vielen.
Die nörgelnde Hupe eines rostigen Pick-Ups warf ihn in die Wirklichkeit zurück. Er stieß einen Fluch aus, und seine Augen hinter den Gläsern der verspiegelten Sonnenbrille fokussierten sich wieder auf die Straße.

(...)

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Montag, 2. Oktober 2023
Mommsen - und der Fluch der 11.
(...)

Mommsen verspürte nicht die geringste Lust, sich noch einmal in die Regionen des Geistes zu begeben, für die er auch heute noch keine andere Bezeichnung finden konnte, als den wahrlich zweifelhaften Begriff der „Hölle“.
Während er also derart nachdenklich von seinem Appartement im 64. Stock des NestorBuildings über die Silhouette der nächtlichen Stadt sah, hinab auf die Dächer der unter ihm liegenden Gebäude, in die laternenbeleuchteten Straßen, die wie tief ausgestanzte Gräben zwischen den Häusern verliefen, auf den - um diese Zeit - spärlicher gewordenen Betrieb dort unten …, zog sich sein Blick zurück, und er sah mit einem Mal nur noch das durchscheinende Abbild seines eigenen Gesichts, das ihn wie ein Gespenst aus der Sicherheitsglasscheibe vor ihm anstarrte. Ein fahles, furchtsames, vorzeitig gealtertes Antlitz, das just in diesem Augenblick die Lippen zu einem bizarr verzerrten Totenkopfgrinsen verzog.
War der Wahnsinn, so fragte er sich, zurückgekehrt, um seinen alten Bekannten Moses Mommsen in die Arme zu schließen, ihn nachhause zu holen - wie einen verlorenen Sohn?

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