Montag, 13. November 2023
Kristallwelt (Henry und June/Erzählung/SF) - Part II.
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Unter brummenden Motorengeräuschen ließ er das Stadtzentrum hinter sich und gelangte an die Auffahrt zu der in den östlichen Stadtbezirken gelegenen Universität. Es war der Ort, an dem er sich mit Eloise verabredet hatte. Er sah sich um und bemerkte ihre Gestalt in einiger Entfernung vor dem Campustor - eine elegante, spielpuppenartige Erscheinung, die größer und größer wurde, je näher er kam.
Sie war bezaubernd.
Immer schon war er von ihrer Erscheinung wie geblendet gewesen. Auch heute verhielt es nicht anders: ein mit schwarzen Symbolen gespicktes, metallic-silbernes Tuch, das nur wenige, ungezähmte Strähnen ihres brünetten Haars über der Stirn freiließ, bedeckte ihren leicht seitlich geneigten Kopf, sie glich einer der vergangenen, europäischen Königinnen, deren zeitloser Stil ihnen allen aus den Pflichtprogrammen des staatlichen Bildungsfernsehens bekannt war.
Finn hielt an, und mit der Umdrehung des Zündschlüssels im Schloss verstummte auch die Musik. Er öffnete die Tür, stieg aus, ging auf Eloise zu und - verharrte, als plötzlich hinter den Natursteinmauern, zwischen denen das schmiedeeiserne Tor der Universität verhängt war, zwei Fremde hervortraten: eine ungepflegte, männliche Gestalt in Begleitung einer billig wirkenden Blondine, deren Brüste unter dem hellblauen, viel zu engen Häkelpulli wie Styroporkugeln hervorstießen.
Nur wenig später, noch ehe er den Schock verdaut und seine Überraschung zu Ende überspielt hatte, befand er sich bereits wieder auf dem Rückweg zum Wagen, fühlte sich desillusioniert, nicht jedoch letztgültig entmutigt. „Henry und June…“, so hatte Eloise die beiden in einer lässigen Geste vorgestellt, „…würden gerne mit uns kommen!“ Und, gefolgt von einem Augenaufschlag: „Sie haben sich kürzlich dazu entschieden, den ewigen Bund fürs Leben zu schließen!“
Doch auch damit hatte das Unglück noch nicht wirklich begonnen. Der entscheidende Satz sollte noch folgen: „Lass doch Henry ans Steuer!“, hatte sie noch hinzugefügt und dabei erneut auf den zotteligen Hünen und seine Verlobte neben sich gedeutet, „Vielleicht können wir beide dann ein wenig rummachen, hinten auf dem Rücksitz!“.
Damit hatte sie gelächelt, schlangengleich.
Finn fand nicht mehr die Zeit, seiner Entscheidung logisch auf den Grund zu gehen oder über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Wichtige Teile seiner kognitiven Funktionen bis hinein in die tief verkapselten Areale seines amphibischen Stammhirns quittierten den Dienst und begaben sich zur Ruhe, während zugleich ein Kurzschluss - irgendwo in den Verklebungen seiner ins Leere feuernden Synapsen - ihn dazu veranlasste, das Angebot sofort und augenblicklich anzunehmen. Und so - verschlungene Wege des Schicksals - begriff er erst viel zu spät, dass der langhaarige Typ, der jetzt hinter dem Lenkrad saß und seinen Sportwagen steuerte, völlig zugedröhnt und damit - vollkommen fahruntauglich sein musste.

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